Anschlussprojekte und deren Scheitern

Die Vinschgaubahn könnte als „Fragment einer missglückten Großraum-Bahnpolitik“ bezeichnet werden. Bevor es überhaupt zum Baubeginn der Linie von Meran bis Mals gekommen ist, existierten bereits länger als ein halbes Jahrhundert lang zahlreiche Vorstellungen, Ideen und oft auch bereits gut durchdachte Projekte, wie der Vinschgau als Verbindung zu anderen Bahnlinien genutzt werden sollte. Ein Teil dieser Projekte konnte beim Bau der Strecke bis Mals verwirklicht werden. Mehrere Projekte blieben jedoch aus unterschiedlichsten Gründen unverwirklicht.

Die Idee einer Engadin-Orient-Bahn über Triest-Bagdad-Bombay von Adolf Guyer Zeller, bei der 1895 bereits eine Begehung der zukünftigen Strecke zwischen Chur und Meran erfolgte, passte jedoch den zuständigen Wiener Kreisen aus finanziellen Gründen nicht ins Konzept, weshalb für einen Bau ausschließlich lokale Interessen ausschlaggebend blieben.

Eine solche Lokalbahn wäre die Normalspurbahn Meran – Landeck inklusive evtl. Abzweigung in die Schweiz mit 50% Steigung und einzelnen Zahnradstrecken gewesen. Diese Verbindung wurde als Reschenscheideck-Bahn bezeichnet, da sie das Inn- und Etschtal zwischen Landeck und Meran über das Reschenscheideck (Bezeichnung für den Reschenpass bis 1919, weil er eine Wasserscheide in der Nordwestecke Südtirols darstellt) verbinden sollte. Ein erstes detailliertes Vorprojekt erstellte Ing. Franz Kreuter 1891. Man war sich im Klaren darüber, dass eine Sackbahn bis Mals nicht sehr rentabel sein würde. Nur eine Bahn, die offen für Nordtirol und die reiche Schweiz war, würde auch Geld einbringen. 1896 versprach der österreichische Eisenbahnminister den Bau der Bahn vorerst nur bis Mals, versicherte aber dass dieser als Teilstrecke der Eisenbahnverbindung Meran – Landeck betrachtet wird. Die Ausarbeitung eines Fortsetzungsprojektes bis Landeck wurde in Auftrag gegeben.

1907 wurden die Projektarbeiten für die nördliche Talstrecke von Landeck bis Pfunds abgeschlossen. Vorerst wurde die Strecke jedoch nicht weitergeführt.

Ein ausschlaggebender Grund für den Bau der Linie Meran-Landeck war stets die strategische Bedeutung aus militärischer Sicht. Deshalb wurde dann auch am 01.04.1918, bereits am Ende des 1. Weltkrieges, mit den Bauarbeiten ab Landeck begonnen. Vier Zivilfirmen und eine große Zahl russischer Kriegsgefangener ermöglichten die Fertigstellung eines 22 km langen Teilstücks mit einem Tunnel bis Tösens. Was die Bahntrasse zwischen Mals und Reschen betrifft, so wurden nur Projekte erstellt, zu effektiven Bauarbeiten ist es nicht mehr gekommen. Für diese bahntechnisch schwierige Strecke wurden allerdings drei Varianten angefertigt. 

Das Kriegsende und die Abtretung Südtirols an Italien stoppte die Weiterführung der Arbeiten. Die Reschenscheideck-Bahn war Bestandteil des Vertrags von St. Germain: Art. 321 10.09.1919

„1. Innerhalb einer Frist von fünf Jahren nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages kann Italien den Bau oder die Ausgestaltung der neuen Alpenbahnen über den Reschen und Predilpass auf österreichischem Gebiet verlangen. Sofern Österreich nicht beabsichtigen sollte, diese Arbeiten selbst zu bezahlen, werden die Kosten des Baues oder der Ausgestaltung von Italien vorgestreckt werden …

2. Österreich hat an Italien unentgeltlich die Pläne samt Zubehör für den Bau folgender Eisenbahnlinien abzutreten: der Bahn von Tarvis über Raibl, Görz nach Triest,… der Reschenbahn (Verbindung Landeck – Mals).“

Italien forderte kurz vor Ablauf der Frist 1925 Österreich zum Weiterbau der Reschenbahn auf. Die österreichische Regierung verlangte für das erste Baujahr einen Vorschuss von 15 Millionen Schilling. Da Italien darauf nicht antwortete, war Österreich von der Verpflichtung zum Bau befreit. Zudem war Österreich wenig interessiert, von sich aus unter großen Opfern Italien eine weitere Eisenbahn-Zubringerstrecke zu bauen.

Als der Güterverkehr zwischen Deutschland und Italien vom Jahr 1936 an erheblich zunahm, wurde nach der Besetzung Österreichs im Frühjahr 1938 diese zweite Alpenüberschienung neben dem Brenner wieder interessant. Im „großdeutschen“ Rahmen wurden die Gedanken einer Fern-Ortler-Bahn gegenwärtig. Der 2. Weltkrieg machte diese optimistischen Pläne zunichte.

Im 2. Weltkrieg wurden außer Rüstungszentren und Wohngebieten auch Nachschubwege zahlreich bombardiert. Dies traf im besonderen Maße für die Brennerbahn zu. Auch deshalb erinnerte man sich wiederum gegen Kriegsende 1944 an die begonnene und in der Planung fertige Reschenscheideck-Bahn, die man zur Entlastung der immer wieder angegriffenen Brennerbahn mit einfachen Mitteln und schnell ausbauen wollte. Für die so genannte Alpenfestung, die in den letzten Kriegsmonaten zwar geplant, aber nie existiert hat, wäre die Reschenbahn eine wichtige Nachschublinie geworden. Die Arbeiten endeten im Mai 1945.

Erst 1955 wurde im Zusammenhang mit einem Kraftwerkbau und dem Ausbau der Bundesstraße offiziell auf die Realisierung der Bahn verzichtet. Die bereits erworbenen Grundstücke kamen in den Besitz der Straßenverwaltung, denn die vorbereitete Trasse zwischen Landeck und Tösens diente später weitgehend der Verbreiterung der Bundesstrasse. Heute findet man noch Tunnel, vorbereitete Brücken und Unterführungen, die von den zwei Bauphasen der Reschenscheideck-Bahn zeugen.

Als mögliche Abzweigung für die Reschenscheideck-Bahn wäre die Ortlerbahn geplant gewesen. Dieses umfangreiche Ortler­bahn-Projekt hatte das Ziel, den Vinschgau mit ober­italienischen Städten, wie Brescia und somit mit Mailand zu verbinden. In den Jahren 1905, 1909 und 1924 wurden jeweils umsetzbare Projektstudien verfasst. Die Gemeinsamkeiten dieser Pläne sind: Abzweigung von der Reschen­scheideck-Bahn in Taufers im Münstertal; 10, 15 und 18 km langer Ortlertunnel; Anschluss an das bestehende Bahnnetz in Brescia bzw. Tirano; mehrere kilometerlange Tunnel. Die letzte der drei Studien wurde 1925 Mussolini vorgelegt, der sie genehmigte. Darauf wurde ein Komitee beauftragt, die technischen Details zu bearbeiten und die Finanzierungsfragen zu klären. Wie überall in Europa stoppte die Weltwirtschaftskrise von 1929 diese italienische Planung.

Diese unverwirklichten Anschlussprojekte hängen eng miteinander zusammen. Wegen der Möglichkeit, eine wichtige Alpentransversale zu erhalten, wurde für die Reschen­scheideck-Bahn immer eine Hauptbahn, mindestens jedoch eine normalspurige Bahn, gefordert. Aus Kostengründen sind diese Anläufe nicht gelungen. Hätte man bescheiden nur eine Schmalspurbahn verlangt, so wären diese Bahnen vielleicht gebaut worden und hätten ausgezeichnete Dienste zur Erschließung der Gebiete um den Reschen geleistet.

Text verfasst von Manuel Massl, Schlanders Vetzan